top of page

Es braucht viel Energie ein verkappter Introvertierter zu sein

Autorenbild: Kerstin RuKerstin Ru




Wir leben in einer gemachten extrovertierten Welt. Es wird uns eingeredet, dass nur „laute“ Menschen Erfolg haben und das Glück mit Kontaktfreudigkeit einhergeht.


In den USA, eines der extrovertiertesten Länder überhaupt, sind laut einer Studie ein Drittel bis die Hälfte der Amerikaner introvertiert. Ist das nicht überraschend? Es liegt daran, dass viele Introvertierte vorgeben extrovertiert zu sein. Es sind verkappte Introvertierte, die gelernt haben, gute Schauspieler zu sein.


Es beginnt bereits als Kleinkind, wenn beispielsweise ein Bekannter zu einem „stillen“ Kind sagt: „Nun sei doch nicht so schüchtern.“ Weitergeht es in Kindergarten und Schule, in der das Kind und die Eltern immer wieder zu hören bekommen: „Ihr Kind muss sich mehr beteiligen. Es muss mehr aus sich herauskommen.“ Was macht das aber mit dem Kind und den Eltern? Eltern haben Angst, dass ihr Kind in dieser Welt nicht gut bestehen kann, und versuchen ihr Kind wohl gemeint zu einem extrovertierten Verhalten zu „pushen“. Da ich selbst introvertiert bin, weiß ich aus eigener Erfahrung, wie es sich als Kind anfühlt. Es ist das Gefühl, irgendwie nicht gut genug zu sein. Das Selbstbewusstsein sinkt und Schüchternheit wird zusätzlich gefördert. Um das zu überspielen, versucht man dann irgendwie extrovertiert zu werden, wie es eben alle wollen und wie man es selbst so gernhätte. Das ist ein verzweifelter innerer Kampf. Es verbraucht sehr viel Energie und Kraft gegen seine eigene Natur zu kämpfen.


In meiner Arbeit treffe ich immer wieder auf Jugendliche und Kinder, denen es ähnlich geht. Wenn sie erkennen, welche besonderen Stärken sie als Introvertierte haben und ihnen bewusstwird, dass es keine Schwäche ist introvertiert zu sein, dann kann ich in ihren Augen ein kleines Leuchten erkennen.


Introvertierte ziehen ihre Energie aus anderen Kraftquellen als Extrovertierte. Extrovertierte tanken vor allem in der Geselligkeit mit anderen Menschen auf. Introvertierte hingegen vor allem im Alleinsein. Sie hören beispielsweise gern Musik, lesen ein Buch, gehen durch den Wald spazieren, Malen, Zeichnen oder schreiben Tagebuch. Sie treffen sich lieber mit einer oder zwei Freundinnen als in einer größeren Gruppe. Sie sind oft sehr emphatisch, die besten Zuhörer und gute Beobachter. Dadurch können sie Zusammenhänge schnell wahrnehmen. Sie durchdenken Dinge sorgfältig bevor sie sie in die Welt tragen. Sie mögen lieber tiefsinnige Gespräche als Smalltalk. Ständige Partys und Unternehmungen mit vielen Außenreizen erschöpfen sie eher.


Ich hätte mir sehr gewünscht, dass ein Erwachsener, mein Naturell als Kind und als Jugendlicher wirklich verstanden und mir erklärt hätte, dass ich ganz normal und richtig bin. Ich hätte mir gewünscht, viel früher zu verstehen, was Introversion eigentlich bedeutet und welche besonderen Stärken ich als Introvertierte habe.


Es ist wichtig, dass Eltern, ErzieherInnen und LehrerInnen über einen stärkenorientierten Umgang mit introvertierten und schüchternen Kindern sensibilisiert und aufgeklärt werden. Denn sie sind es, die die Glaubenssätze prägen, die ein Kind von sich entwickelt, ob in positiver oder negativer Hinsicht.


Letztlich sind Introversion und Extraversion einfach verschiedene Temperamente, mit denen wir geboren werden. Der jeweilige Ausprägungsgrad ist individuell. Nichts ist besser oder schlechter, beides braucht die Welt. Die Stärken der Introvertierten sollten jedoch viel mehr öffentliche Beachtung und Wertschätzung erhalten.


Überlege doch einmal, bist du eher extro- oder introvertiert? Wie geht es Dir damit?




Buchempfehlung: Susan Cain: „Still – Die Kraft der Introvertierten“ und „Still und Stark – Die Kraft introvertierter Kinder und Jugendlicher“


 
 
bottom of page